Tag 2 (16. Juli)
Der Morgen beginnt mit Kaffee. Außerdem nötigt mich meine Mutter, eine Scheibe Brot zu essen. Ich schaffe eine Halbe. Ich breche auf, kaufe unterwegs Putzzeug, Müllbeutel, Müllbeutel, Müllbeutel und Gummihandschuhe. Mein Plan für heute: Das Haus so weit herrichten, dass meine Familie beim ersten Anblick unserer Katastrophe nicht allzu entsetzt ist. Zu diesem Zeitpunkt denke ich immer noch, dass sich der Schaden auf Möbel, Küche und Boden begrenzt. Aus heutiger Sicht kann ich mich nur als naiv bezeichnen. Oder saudämlich.
Die Siedlung ist auf eine seltsame Art so lebendig wie nie. Alle Haustüren und Gartentüren stehen sperrangelweit offen. Vielleicht, weil alle Türglocken ohne Strom nicht funktionieren. Oder um Luft ins Haus zu lassen. Oder um nicht allein zu sein. Wer nicht arbeitet, redet. Jeder mit jedem. Und die am häufigsten gestellte Frage: „Wie bist du denn versichert?“ Die zweithäufigste Frage besteht im Grunde nur aus einem Wort: „Elementar?“
Ich muss zugeben, dass ich beide Fragen zunächst nicht beantworten kann. Aber ich habe an meine Wohngebäudeversicherung und an meine Hausratversicherung zwischenzeitlich Emails geschickt. Der Versicherungsmensch von der Wohngebäudeversicherung antwortet, dass er in Urlaub ist und meinen Fall an einen Kollegen weiterleitet. Mittags kommt eine Schadensnummer. Die Hausratversicherung antwortet gar nicht. Ich könnte in dem Durcheinander natürlich versuchen, in meinen Unterlagen die Policen zu finden. Aber im Augenblick fehlt mir die Zeit, der Überblick … und vor allem der Mut.
Verschiedene Nachbarn sind nicht versichert, andere haben Rundumschutz. Es gibt auch welche, die sind elementarversichert, aber in Klauseln steht, dass ausgerechnet Hochwasser ausgeklammert ist. Ich mag nicht darüber nachdenken, sondern stürze mich in die Arbeit. Alexandra hilft mir wieder. Wir retten weitere Fotos, bringen die verbliebenen Bücher in Sicherheit, wischen die Bodenkacheln und zertrümmern weiter meine Möbel.
Meine Klimaanlage aus dem Büro habe ich gestern schon von René ins Erdgeschoss tragen lassen. Die Temperatur ist egal, aber das Gerät hat eine Luftentfeuchter-Funktion. Schlauer Gedanke? Ohne Strom eigentlich nur blöd.
In der Siedlung dröhnen die ersten Notstromaggregate. Sowas brauchen wir auch! Meine Frau versucht von Bayern aus, via Facebook etwas zu organisieren. Sie mausert sich in Ferne mehr und mehr zum Krisenmanager.
Irgendwann bekommen Alex und ich Hunger und wir beschließen, zur Imbissbude zu gehen. Zwischen meinem Haus und dem Dönergrill liegen vielleicht dreihundert Meter Luftlinie. Für mich ist es der Weg in eine andere Welt. Das Leben auf dem Sülztalplatz geht ganz normal weiter. Vor dem Eiscafé sitzen lachend die Leute, gegenüber flaniert man an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei. Es fühlt sich für mich alles so surreal an. Jetzt kommen wir in unseren verschlammten Klamotten und bestellen uns Currywurst. Ich stutze, denn am Sitzplatz müssen wir einen Zettel mit unseren Kontaktdaten ausfüllen. Ach, Corona! Das Thema hatte ich ja ganz vergessen. So verdrängt eine Katastrophe die andere. Hatten wir nicht irgendwann mal über Feinstaubbelastung und Rußpartikel diskutiert?
Danach schuften wir weiter, doch dann ruft Alex die Arbeit. Neben ihrer spontanen Hilfe bei mir wartet auch bei ihr der alltägliche Job. Trotzdem haben wir bis zum frühen Nachmittag viel geschafft. Das Untergeschoss sieht nicht mehr so schlimm aus. Okay, die Küche ist Schrott und zwei Drittel der kaputten Möbel stehen auch noch da. Aber der Boden ist wieder sichtbar, die Tapete sieht ausgesprochen gut aus und das Gäste-WC ist sogar benutzbar. Esstisch, Stühle und das Gerippe vom IKEA Sessel kann man vielleicht retten. Und im Garten setzen sich ein paar frische Blüten gegen den Schmodder durch. Grelles Lila, Rot und Gelb vor grauem Braun. Ich hänge noch die aufgequollenen Türen aus und trage sie zum allmählich wachsenden Sperrmüllhaufen am Gartenhaus. Dabei ist auch die Küchentür, die ich letztes Jahr mit Tafelfolie bezogen hatte. Mit Kreide steht da noch unser Urlaubscountdown drauf. 0 Tage bis Urlaub. Dazu ein flott gekritzeltes Bildchen mit Sonnenuntergang hinter den Bergen.
Um 16 Uhr mache ich mich auf, um meine Familie in Bayern abzuholen. Ich komme nicht weit. Ab AK Siegburg fahre ich von einem Stau in den nächsten. Es ist nicht nur der Berufsverkehr, der sich über die Fahrbahnen wälzt. Da auf der anderen Rheinseite Autobahnen aufgrund des Hochwassers unpassierbar geworden sind, leiten die Navis den Verkehr auf die A3 und die daran anschließenden Autobahnen um. Aus den Boxen kommen die Meldungen im Radio: Je nach Region soll man das Wasser abkochen, es gibt Spendenkonten, Hilfsangebote. Dann kommen die Zahlen für die traurigste Statistik. Es gibt in NRW so viele Tote zu beklagen! Ich muss das Radio abstellen und habe deshalb ein schlechtes Gewissen. Aber mir fehlt gerade die emotionale Distanz.
Um 23:30 Uhr komme ich am Ferienhaus an. Auf Gummibeinen gehe ich ins Haus. „Reiß Dich für deine Familie zusammen“, sage ich mir. Schon sitze ich am Esstisch, meine Mädels um mich herum. Pepper, unsere Labradorhündin, legt sich quer über meine Füße. Ein Bier, etwas zu Essen. Ich spule die Geschehnisse tapfer ab, erzähle, was erledigt ist, was zu retten war und wie ich denke, dass es weitergeht. Und umgekehrt bekomme ich erzählt, was hier in Bayern schon erledigt und angeleiert wurde. Die Koffer sind für die Rückreise gepackt, die Rezeption weiß Bescheid. Meine Familie ist taff. „Wir schaffen das“, ist die unausgesprochene Botschaft, die wir uns gegenseitig vermitteln wollen. Und natürlich schaffen wir das; keine Frage. Trotzdem heule ich irgendwann wie ein Schlosshund und lasse mich von meiner Jüngsten trösten. Sollte es nicht andersherum sein?
Wir gehen in unsere Betten und ich starre wieder die Zimmerdecke an.
Tag 3 (17. Juli)
Wir brechen früh auf und fahren direkt durch nach Köln zu meinen Schwiegereltern. Dort entladen wir das Gepäck und dürfen auch den Hund da lassen. Ein kurzes Gespräch, die eine oder andere Umarmung, dann wieder Richtung Rösrath. Am frühen Nachmittag wollen die Helfer kommen und ich möchte meiner Frau und meinen Töchtern erst etwas Zeit geben, sich mit der neuen Situation zurechtzufinden. Die Zufahrtstraße zur Siedlung ist hoffnungslos verstopft. Ich stelle den Wagen in den Grünstreifen der Landstraße. In den kommenden Tage wird das mein Stammparkplatz.
Dann gehen wir in unser Viertel, in unsere Straße, in unseren Garten, in unser Haus, in unser Wohnzimmer. Der Moment, vor dem mir in den letzten Tagen am meisten graute, ist da. Ich zeige meiner Familie das kaputte Zuhause. Meine Frau sagt: „Ach, du Scheiße.“ Dann ist der Moment vorbei und wir fangen an zu arbeiten.
Und im gefühlt nächsten Augenblick stehen die ersten Helfer im Türrahmen. Freunde, Bekannte, Freunde von Freunden und Schulfreundinnen meiner Töchter kommen herein, umarmen uns und manche weinen auch mit uns. Nach dieser denkwürdigen Begrüßung unserer „Gäste“ spüre ich, dass plötzlich Blicke auf mir ruhen. Ich soll ansagen, was zu tun ist. Leute, ihr tut mir hier den menschenmöglichst größten Gefallen und da soll ich den Chef raushängen lassen? Das fühlt sich falsch an. Ich höre mich sagen, dass die Mädels Fotos, CDs und DVDs zum Trocknen ausbreiten sollen. Die verbliebenen Schränke müssen leergeräumt werden, ebenso die Küche. Der Boden kann erst rausgerissen werden, wenn die Möbel raus sind. Aber wer Leerlauf hat, kann schon Tapete abreißen. Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, da arbeiten alle.
Die nächsten Stunden kann ich kaum beschreiben. Es ist ein seltsames Gemisch aus Erinnerungen und Gefühlen. Die Stimmung im Haus ist ebenso seltsam. Manchmal ist es still, doch die meiste Zeit wird viel geredet und sogar gelacht. Claudia hat zum Beispiel sehr viel Spaß mit einem aufgequollenen Tiefkühlbaguette. Es schwamm unsinkbar im Wasser des abgetauten Gefrierschranks. Im Gegensatz zur Titanik hat es die schmelzenden Eisberge überstanden.
Über die sozialen Medien haben wir vortags einen Notstromgenerator angeboten bekommen. Doch der Helfer meldet sich zunächst nicht mehr. Also nehme ich ein weiteres Angebot an. Ein junger Mann telefoniert mit mir. Der Generator sei aber etwas schwach. Er sagt mir die Leistung, ich antworte, dass mir das nichts sagt. „Für einen Wasserkocher wird’s reichen.“ Ich denke an den Nasssauger, den wir mitgebracht bekommen haben. Verbraucht vermutlich etwas mehr … Egal! Her damit.
Später klingelt mein Handy und der gute Mann, der unsere Siedlung erreicht hat, sucht unser Haus. „Dirk, da ist irgendwo jemand mit einem Notstromgerät. Sammel den bitte ein.“ Und Dirk zieht los. Von der anderen Seite kommt jemand mit einem Notstromer. Er hat uns doch von selbst gefunden, entlädt und weist mich ein. Kurz darauf kommt Dirk wieder. Er bringt auch jemanden mit Notstromaggregat. Jetzt habe ich zwei! Ärks. Das erste Hilfsangebot ist nicht im Sande verlaufen. Ich entscheide mich für das stärkere Gerät, das andere bekommt prompt einen anderen Hilfsbedürftigen zugewiesen.
Das Notstromaggregat läuft mit Benzin und muss mit einem Anzugseil gestartet werden. Ich hab sowas noch nie gemacht und habe deshalb Hollywoodfilme vor Augen: wie schwer es ist, den Außenborder anzuziehen, wenn der Weiße Hai das Boot anknabbern will! Fast schon enttäuschend, dass das Aggregat beim ersten Versuch anspringt. Mit stolzgeschwellter Brust erzähle ich jedem, der es hören oder nicht hören will, dass ich einen Benziner angezogen habe. Blöd nur, dass es nix Besonderes ist.
Die Töpfe und Pfannen in der Küche werden ausgeleert und gespült, das aufgequollene Waschpulver mit dem Nasssauger aufgesaugt. Das Wohnzimmer leert sich, die Wände werden kahl und im Garten glänzen CDs im Sonnenlicht. In den oberen Stockwerken ist jeder Zentimeter Boden mit Fotos ausgelegt.
Irgendwann verabschieden sich die ersten Helfer und ich finde mich in der nun fast leeren Küche wieder. Draußen am Gartenhaus lehnt ein riesiger Haufen Sperrmüll, unter dem Carport stapeln sich die Küchengeräte, Waschmaschine, Trockner und der nun leere Gefrierschrank. Müllsäcke mit Tapete, leeren Booklets, durchnässten Büchern komplettieren das feuchte Stillleben. Mir wird schmerzlich bewusst, dass wir die letzten Jahre jeden müden Cent in die untere Etage gesteckt haben. Vor zwei Wochen hatten wir erst die Wände in der Küche gestrichen. Das meiste im Wohnzimmer war nicht älter als drei Jahre. Alles, was wir uns in den letzten Jahren erarbeitet haben … weg.
Ist es die Erschöpfung oder die Reizüberflutung? Ich flenne schon wieder. Aber Debbie ist da und legt wortlos eine Hand auf meine Schulter.
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Dank geht raus an Alexandra, René, Renés Bruder, Dirk, Debbie, Annika, Katja, Julia, Nicole, Helen, Rainer, Claudia, André, Carina, Andreas, Martina, Michael, Petra, Petras Freundin, Darlene, „das Tier“ Jochen und Thomas.
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